Montag, 15. Mai 2006

You are my heart, you are my soul

Eine sehr unangenehme Geschichte musste ich eines Montags erfahren, an einem jungfräulichen Vormittag einer jungfräulichen Arbeitswoche.
Unsere Kollegen Robert und Stefan aus der Dependance aus Düsseldorf kamen unangekündigt vorbei. Man wolle schnell noch für einen neu gewonnen, namhaften Alcopop-Hersteller einen TV-Spot prodizieren. Er solle noch zur Fußball-WM ins TV kommen. Der Kunde habe einige Sendeplätze in einer Mediaverlosung gewonnen. Bei aller Hektik und Hang zur Pragmatik haben sich die beiden nicht um professionelle Models bemüht. Authentisch solle der Spot sein, das machen unsere lieben Berliner Kollegen. Die Hälfte der Belegschaft komme ja eh aus dem Osten, da sei man ja sowieso etwas unverkrampfter in Haltung und Schutz der Seele/Persönlichkeit/Privatsphäre.
Da standen sie: Robert eine Agenturlegende, die ich das letzte Mal bei meinem einzigen und letzten BAC-Trip mit einem am Wrap ausgebissenen Zahn vorfand, ein Kreativgenie, das gerne mal für Jahre verschwindet, aber für die seltsamsten Dinge zu haben ist. Und Stefan, eigentlich Stefanie, die Rezeptionistin aus Düsseldorf. Ein agenturbekanntes Stimmungsbömbchen und Generalmotivatorin, die einmenschgewordene Dauerpolonese.

"Freunde", sagte Robert "wir brauchen euch, ihr seht gut aus, das macht jede Menge Spaß. Ihr müsst nur diesen Ganzkörpersuit aus Netzstoff mit abnehmbaren Bein zum Umbau als Hotpant tragen und diese lustigen Bananenhüte. Ihr wisst schon, unser Drink **** erhält zu 34% echte Bananen. Dann werden wir jetzt gleich im hinteren Konferenzraum einen Tanz einstudieren, dafür sind 2 Stunden eingeplant. Danach muss das sitzen. Und du, du und du, ihr seht verdammt gut aus, ihr müsst noch den Song einsingen. Das macht ihr bestimmt großartig. Das ganze soll natürlich und enthemmt rüberkommen. Ihr müsst dann noch etwas an euren Kollegen rumfummeln. Keine Sorge, ihr müsst nur faken. Aber rüberkommen sollte es wie ne Alcopop-Orgie. Ihr wisst schon, die Kids finden das toll und vielleicht kriegen wir etwas Ärger. Das bringt uns Publicity. Ach und tonalitymäßig isses irgendwas zwischen DJ Bobo und Swinger Club. Alles klar? Mitmachen ist Pflicht und jetzt huschhusch zum Proben."

Meine Kollegin Cynthia und ich hatten zum Glück im letzten Jahrtausend viel Geld als Tänzerinnen in einem Motörhead-Video gemacht und Lemmy Kilmister in einem mit Schnaps unterzeichneten Vertrag zugesichert niemals in einem anderen Video oder Werbespot mitzuspielen. Unique, Branchenethos. Also verweilten wir in der Agentur und machen die Arbeit für 30 Kollegen für einen Nachmittag: "Nein, liebe Frau Schmidt-Rossberg, ihre Kundenberaterin Tina Taschberg ist heute nicht mehr zu erreichen und nein der CD Friedbert Freipflug kommt heute auch nicht mehr."

Und dann kamen sich doch wieder zurück von ihrer Strandbar, die eigens für den Dreh Unter den Linden von einem Chillbudenbauer aus Ibiza gebaut wurde. 30 Kollegen mit
Bananenalkoholfahne und fliederfarbenen Gesichtern und seelig enthemmt endlich mal Tatjana aus der Produktion anfassen zu dürfen - und das fürs TV. Ohne große Vorbereitung, ganz unvermittelt, so ganz ohne lästiges Casting. An einem Montag ins TV. Sie packten ihre Sachen und zogen weiter zur
Wrap Party ins nahe gelegene Tropical Islands.

Manche von ihnen kamen nie wieder zurück. Sie wurden von Herrn Soost gleich unter Vertrag genommen. Deren Arbeit machen meine Kollegin Cynthia und ich jetzt. Herr Soost hat uns im Gegenzug einige untalentierte Tänzerinnen versprochen, die bei uns anfangen sollten. Bis jetzt hat noch keine den Weg zu uns gefunden.

Das ist die bekannte Lockerheit und Unverkrampfheit der Branche. Ich genehmige mir jetzt erstmal ein Becks Strawberry Cheesecake. Oder doch ein Becks Plum?

Chefs sind deine Eltern und Eltern deine Chefs

Mit Chefs durchläuft man dasselbe Dilemma wie mit den eigenen Eltern. Je älter man wird, desto mehr werden einem die Fehler der Eltern bewusst und man fängt an sich zu distanzieren.
Sie verhalten sich auffallend komisch, man beginnt sich zu schämen. Sie entwickeln einen ungesunden Hang zu infantilem Verhalten. Bemitleidenswert.

Ja manchmal fragt man sich, wie so ein perfektes Wesen wie man selbst entstehen konnte, wenn die Eltern doch zeitweise ein Total-Error sind.
Man fragt sich im Umkehrschluss genauso, wie Kunden Topkreation kaufen wenn sie von älterlichen Postpubertären im helllila Hemdchen angepriesen wird.

Fängt man neu in einer Agentur an, versucht man seinen Vorgesetzten mit gesundem Menschenverstand und der natürlichen Untergebenheitshaltung entgegenzutreten. Eigentlich gänzlich unbelastet und frei.
Meist kursiert ein Mythos über den Chef, dem er seinen Job zu verdanken hat. Er war zum Beispiel an legendären VW-Kampagnen als Supercreative-Head beteiligt. Komisch nur, dass es mittlerweile 300 Werber in seinem Alter gibt, die dasselbe behaupten. Gar nicht komisch, immer wieder die alten Stories von damals zu hören.

Eine Probezeit später wird einem bewusst, dass das alles nur Glück und Zufall war: Die Person, die über dich und deine professionelle Zukunft richtet, hat ihren Job dank monarchischer Erbreihenfolge von Einzellern gewonnen.

Manchmal passieren dann solche Dinge:

- "Wir pitchen ja diese Woche um BMW, das Bayerische Motorsägen Werk."
Ähm, ok, Motorsaw.
Wunderbar Chef, du hast vielleicht am Wochenende einen Barolo zu viel getrunken, aber bitte sage das dann nicht in der Präsentation.
Wir kennen von unseren Eltern dann Geschichten wie diese: "Kind, ich habe eine ganz leckere Schoko von Milkana." Kind: "Pfui von dem Frischkäsefabrikanten?" "Nein, Kind, Milkana ist einer der bekanntesten Schokoladenhersteller. Bist du weltfremd!"

- Manchmal haben sie oktopusgroße Knutschflecken nach ihrem Thailand-Urlaub und erzählen, dass sei ein Überbleibsel eines allergischen Schocks auf Native-Food.
Chefs sind geradezu aggressiv-naiv in ihrer Vorstellung, dass ihre Angestellten diesem Lügenmärchen glauben schenken. Ähnlich war das ja bei unseren Eltern als sie uns den Eierlikör zuviel als Altersmigräne erklären möchten wobei wir Kinden schon den 63igsten Rausch hinter uns haben und man endlich mal offen sprechen könnte.

- Manchmal fahren sie Auto als hätten sie ihren Führerschein bei Tante Ursel in der Boxautobude in Castrop-Rauxel neben dem Zuckerwattenwettessen und der Rosenschiessbudenmeisterschaft gewonnen. Bordsteine, Mülleimer Pommesbuden werden niedergerollt und nebenher wird noch die Präsentation umgestellt. Bei unseren Eltern ists genauso: Doch die Präsentation ist das Kreuzworträstel oder der Einkaufzettel.

- Enorme Ähnlichkeiten sind auch immer wieder bei der Kleidungswahl festzustellen. Rümpft der durchschnittlich-modeaffine Mitarbeiter bei dem esoterisch-orangefarbenen Hemdchen irritiert die Nase und führt sich prophylaktisch schon mal 3 Liter Augentropfen pro Auge ein, wird einem vom Gegenüber beteuert. "Mensch, das trägt man jetzt so. Du hast ja gar keine Ahnung."

- Die absolute Ähnlichkeitsverdichtung mussten wir in Personalgesprächen feststellen: "Matthias, du machst einen guten Job. Du arbeitest mehr und besser als Kollege Hartmut, der ja älter ist. Aber du verdienst doch bereits recht gut. Als ich so jung war wie du habe ich nicht annährend so viel verdient wie du. Was erwartest du denn? Du hast ja auch deine Ausbildung/dein Tiermedizinstudium/deine Telekollegnutzung abgebrochen. Ich weiß wirklich nicht was du willst."

Was lernen wir aus all dem? Wir müssen mit unseren Chefs genauso behutsam umgehen wie mit unseren alternden Eltern. Irgendwann werden wir unseren Chefs aus der W&V und Wallpaper vorlesen müssen, damit sie unsere Kreativerzeugnisse verstehen.
Aber unsere Chefs werden niemals an Altersdemenz leiden.
Zu schön wäre der Gedanke man könnte sich jeden Tag neu vorstellen, jeden Tag eine neue Position und all die von uns gemobbten Kollegen wären vergessen.

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